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Archäologie und Atmosphären 01: Lesen im Feinstofflichem

Updated: 10 hours ago


Als ich den Ort zum ersten Mal besuchte, wäre ich gern schnell wieder umgekehrt. Die Anzeige dümpelte nicht grundlos über ein halbes Jahr auf Ebay- Kleinanzeigen. Das Gebäude war so gut wie unverkäuflich. Zu verschandelt, zu groß für eine Famillie und definitiv nicht lohnend für einen Investor.

Die erste Begegnung 2012. Die historische Gutshausfassade war in den siebziger Jahren zerstört worden.

Die ehemals gemauerten Rundbögen wurden durch ein Wellblechdach ersetzt. Die ursprüngliche Ziegelfassade wurde mit Kratzputz überdeckt.


Die Räume hatten sich an diesen kalten Wintertag 2012 bis auf minus zehn Grad abgekühlt. Das Schlösschen (so wurde zu besseren Zeiten genannt) stand schon einige Jahre leer. Ein undichtes Dach und kaputte Fenster hatten zu Wasserschäden und Schwammbefall geführt.


Lesen im Feld

Der erste Eindruck war deprimierend. Doch war da auch eine Ahnung von dem Gewesenem. Ich schaute durch kaputte Fenster wie in alte Zeiten hinein. Es ist wie ein Film, der schnell, wie unsichtbar und „unbegreiflich” abläuft. Hier war mal richtig was los, dachte ich. Es musste ein schöner Ort gewesen sein. Auch deswegen fühlte sich das Haus so melancholisch an: Es schien mir, als würde es immer noch dem nachtrauern, was es einmal gewesen war.


Dies ist eine eher periphere und atmosphärische Wahrnehmung. Richte ich den Fokus meiner Aufmerksamkeit auf sie, ist sie weg. Ihr Inhalt lässt sich kaum in Worte fassen.

Da sie aber ein wichtiges Element bei vielen unserer Entscheidungen war, gewissermaßen sogar deren Grundlage, spreche ich hier über sie. Eine Annahme ist, dass sie mit einem feinstofflichen Feld kommuniziert. Dort scheint „eingespeichert” zu sein, was einmal war und vielleicht auch wieder (anders) werden könnte.


Begehung der oberen Räume ein paar Wochen später.


Spuren im Sichtbarem

Vieles hat hier konkrete Spuren hinterlassen. Es gab Spuren der Nachkriegszeit und deutlich erkennbar: Veränderungen, Zerstörungen und Überformungen aus der sozialistischen Ära.


Die historischen Kachelöfen waren beseitigt worden. Es ist in den Räumen noch erkennbar, wo sie gestanden haben. Viele Türen waren verschwunden, Fensteröffnungen wurden verkleinert, Decken wurden herunter gehängt usw.


Gehe ich durch diese deutlich sichtbaren Veränderungen hindurch, gelange ich in tiefere Schichten der Vergangenheit.


Die Entstehungszeit. Zwei Geisteshaltungen überlagern sich

Eindrücklicher und substanzieller als diese neuzeitlicheren Schichtungen war für mich die Geisteshaltung präsent, aus welcher heraus das Gebäude gebaut wurde.


Diese war zum einen konservierend und bewahrend und reichte weit in die Vorgeschichte der eigentlichen Bautätigkeit zurück: Errichtet wurde das Gutshaus von dem preußischem Innenminister Otto von Manteuffel um 1855. Zuvor stand dort ein altes Rittergut. Von dort konnte man (und kann auch immer noch) auf eine mittelalterliche Kirche blicken.


Otto Theodor von Manteuffel war ein königstreuer Minister, der konservative Grundsätze vertrat. Lithographie-Ausschnitt v. Jaques Gauderique, Royal Collection Trust.

Die klassizistisch anmutenden Türportale (untere, linke Abbildung) reichen stilgeschichtlich bis in das frühe achtzehnte Jahrhundert zurück. Das Gebäude wurde in alter Tradition und Technik mit Materialien, die man heute sicher als ökologisch oder nachhaltig bezeichnen würde, errichtet.


Allerdings bis auf die damals aufkommenden Bitumendächer, die in gewisser Weise bereits eine neue geistige Ausrichtung, die „Gründerzeit" einleiten.


Zwei Aufnahmen um 2012. Zwei sich überlagernde Stile. Auch wenn die Fassade weitgehend zerstört war, so fanden sich im Inneren des Gebäudes noch einige Portaltüren und andere historische Elemente in klassisch preußischer Formsprache.

Die Wirkung der großen Stallräume hingegen erinnert schon an die entstehende Gründerzeit.


Neben dieser, der nationalen Identität, Geschichte und Tradition verbundenen und rückwärts gewandten konservativen Haltung, wirkte bereits auch dieser neue Geist:


Nach seinem Ausscheiden aus dem preußischen Staatsdienst hatte Manteuffel in seiner zweiten Lebenshälfte in Drahnsdorf seinen beruflichen Neuanfang auf dem Gebiet der Landwirtschaft begonnen. Und dies in einer in seiner Dimensionierung durchaus schon „vorindustriellen Bewirtschaftung”.


In dieser zukunftsorientierten Gestimmtheit der frühen Gründerjahre wurden das Gutshaus und die angrenzenden Stallungen „zugleich auch” errichtet. Die wuchtige Kubatur der Räume und die serielle Reihung gleichförmiger Fenster sind bereits inspiriert von den damals entstehenden Industriebauweisen.


Die Kirche-Gutshaus-Bahnhof-Achse

Diese gegenläufige Ausrichtung in Tradition und Zukunft innerhalb dieser „transitorischen” Periode hatte eine Entsprechung in der Ausrichtung und Konstellation der Gebäude:


Frontseitig war das Gutshaus direkt gegenüber einer Feldsteinkirche aus dem 11 Jahrhundert errichtet worden. Von dieser repräsentativen Vorderseite aus blickten ihre Bewohner in die alte, kirchlich geprägte Vergangenheit und Herkunft.


2012. Großer Raum an der Vorderseite des Gebäudes. Der Rückbau der Fenster fand 2017 statt.

Blick von der restaurierten Fensterfront des „Seminarraums” auf die Kirche. Durch die niedrigen DDR Fenster (siehe oben links) war die Kirchturmspitze verdeckt worden. Nach der Renovierung „wirkt ”der Kirchturm wieder mit seiner glänzenden, kupfernen Kugel und Wetterhan in den Seminarraum hinein.


Rückseitig konnte der Bahnhof aus zirka zweihundert Meter Entfernung eingesehen werden. Dieses Wahrzeichen der damaligen Neuzeit, war zugleich auch eine notwendige funktionale Erweiterung der Gutsanlage, denn der Bahnhof diente dem Abtransport der landwirtschaftlichen Güter nach Berlin.


Grusskarte aus dem 19 Jahrhundert mit „Schloss” und Bahnhof, Post- und Pfarrhaus.


Zu DDR Zeiten wurden diese beiden kulturellen und damals identitätsstiftenden Bezugspunkte gestört. Die Sicht zur Kirche wurde durch die Errichtung eines Konsums verdeckt. Die Sichtachse zum Bahnhof wurde durch Plattenbauten zugemauert.


Dies war, vermute ich, kein Zufall.


Archäologie und die Wiederherstellung des „Klangkörpers”

Insofern war noch Einiges sichtbar und spürbar vorhanden, was uns inspiriert und geleitet hat, den Ort wieder so werden zu lassen, wie er vielleicht schon einmal gedacht, gefühlt und auch verwirklicht worden war.


Denn immer wenn wir etwas wieder so herstellten, wie es einmal gewesen sein könnte, merkten wir, dass es sich stimmiger anfühlte, dass wir wieder etwas zum „Klingen” gebracht hatten.


Die Räume nach der Renovierung 2023. Dieser Prozess, der sich auch an die sich verändernden Nutzungen orientiert, ist nie abgeschlossen und sehr wahrscheinlich sehen die Räume in einigen Jahren anders aus. Räume konnten wieder atmen, wenn die alten Türöffnungen wieder hergestellt wurden, sie wirkten harmonischer nach der Wiederherstellung der ursprünglichen Fensterformen und erhabener, wenn die Wände wieder historisch oder nach dem goldenen Schnitt gegliedert wurden.


Auch die Freilegung und die Verwendung der alten Materialien war wichtig. Die Holzdielen, der Kalkputz, die Lehmwände, die Türen in Leinölfarben, die Gardinen aus altem handgewebtem Leinen haben eine Wirkung auf die Atmosphäre.


2020 war der größte Teil des Rückbaus abgeschlossen: Die Freilegung vom Kratzputz, der Rückbau der Fensteröffnungen und die Wiederherstellung der alten Rundbögen.

Die Rundbögen wurden in historischen Klosterziegeln wieder aufgemauert. Die Decke des Vorbaus besteht aus der alten Holzdielung einer berliner Wohnung.


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Archäologie und Atmosphäre 02: Raumpotentiale sichtbar machen

Archäologie und Atmosphäre 03: Damals und heute in Resonanz


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